Nach außen hin waren wir eine heile Familie

Anna hatte schon als Kind das Gefühl, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt. Ihre Mutter litt an Depressionen und einer Alkoholsucht. Die Krankheit der Mutter war immer ein Tabu.

Wenn Eltern traurig und zurückgezogen sind, belastet das auch die Kinder. Selbst wenn sie nicht wissen, was eine Depression ist, bemerken sie, dass etwas anders ist.

„Nach außen hin waren wir eine heile Familie. Aber irgendwie hatte ich immer schon das Gefühl, dass etwas nicht stimmt“, erzählt Anna.*

Was nicht stimmt, kann Anna als Kind nicht genau benennen. Aber ihr fällt auf, dass sich ihre Mutter eigenartig verhält und häufig stürzt, sich dabei sogar schwer verletzt. Phasenweise ist die Mutter stark beeinträchtigt, langsam und abwesend. In schlechten Zeiten liegt sie tagelang zuhause im Bett und ist nicht ansprechbar. In guten Zeiten kann sie einem geregelten Tagesablauf und ihrer Arbeit nachgehen. Doch häufig wirkt die Mutter abwesend, erschöpft und wie ferngesteuert.

Anna versucht zu verstehen, warum ihre Mutter sich so anders verhält. Sie fragt ihren Vater, sucht Rat bei der Großmutter. Aber sie bekommt keine Antworten. Erst als Erwachsene wird Anna klar, dass ihre Mutter alkoholkrank war und an Depressionen litt. Doch in der Familie spricht man nicht darüber.

„Es wurde immer nur verleugnet oder alles schöngeredet. Alles war ein großes Geheimnis“, erzählt Anna heute.

 

Traurige Stimmung

Die Stimmung zuhause ist sehr düster und gedrückt. Die Beziehung der Eltern ist schwierig und belastet. Anna macht sich deswegen oft Vorwürfe und hat Schuldgefühle. Häufig versucht sie die Mutter aufzuheitern, will sie fröhlich stimmen. Immer öfter schlüpft sie in die Rolle der Helfenden.

Noch heute erinnert sie sich an ein Schlüsselerlebnis: Die Mutter lehnt traurig im Fernsehsessel. Im Fernsehen läuft eine Nachrichtensendung. Anna kommt ins Wohnzimmer und will ihre Mutter wieder einmal aufmuntern. Sie sagt: „Ach Mama, das Leben ist doch so schön. Es ist doch so schön auf der Welt.“ Schockiert und mit großen Augen schaut Annas Mutter sie an und fragte sie vollkommen entsetzt, wie sie so etwas sagen kann, wo doch so viel Leid auf dieser Welt passiert. Sie zeigt auf den Fernseher, in dem ein Nachrichtenbeitrag über den Jugoslawienkrieg läuft. Anna fühlt sich plötzlich sehr beschämt und dumm.

„Niemals werde ich den Blick meiner Mutter vergessen. Ich war vollkommen knocked-out und mein Herz begann zu rasen. Ich hätte niemals mit einer solchen Reaktion gerechnet, “ erzählt Anna. „Ich war noch so klein, aber ich hatte das Gefühl, als würde sie mir das gesamte Leid dieser Erde auf die Schultern laden.“

 

Der Wunsch, "normal" zu sein

Aufgrund der Krankheit der Mutter gab es zu Hause kaum einen geregelten Tagesablauf, Banalitäten wie ein gemeinsames Essen oder gemeinsame Unternehmungen gab es selten. Die Großmutter versucht in dieser Zeit viel abzufangen. Sie bringt die Kinder zur Schule, kocht, putzt und kümmert sich um den Haushalt. Andere Kinder werden nie eingeladen. Es gibt keine großen Geburtstagsfeiern und es werden keine Übernachtungspartys veranstaltet, wie das bei den Freunden üblich ist. Die Scham ist zu groß. Das Leben mit dem Geheimnis wird immer mehr zur Routine. Der Wunsch nach einer „normalen“ Familie wächst. Doch er bleibt ungehört.

Nach der Matura zieht Anna in eine WG, beginnt ein Studium und nabelt sich weitgehend von zuhause ab, als sie plötzlich die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erreicht.


„Als mein Vater mich damals anrief, wusste ich, dass die Mama jetzt nicht mehr leiden muss“, erinnert sich Anna.

Der Tod der Mutter veränderte Annas Leben aufs Neue. Sie bricht schlagartig alle Zelte ab und zieht wieder ins Elternhaus ein. Sie kümmert sich um ihren Vater und um ihre kleine Schwester.

Die Folgen heute

Die Krankheit der Mutter prägten Annas Kindheit wie auch ihr späteres Leben. Heute noch fühlt sich Anna oft einsam. Es fällt ihr schwer, jemanden zu vertrauen. Auf die Fragen, wie man ihr als Kind hätte helfen können, gibt sie eine klare Antwort:

 „Ich hätte als Kind jemanden gebraucht, der mich aus diesem geschlossenen System, in dem es normal war über nichts zu reden, rausreißt. Jemanden, der mit mir spricht. Der mir erklärt, was hier passiert und jemand, der sich meiner Gefühle und meiner Ängste annimmt. Ich wusste nicht, was los ist. Ich konnte mir nicht erklären, was ich fühle und ob es okay ist, das zu fühlen“, so Anna heute.

„Redet mit euren Kindern“,  rät sie allen Betroffenen. „Das ist das einzige, was in so einer Situation wirklich hilft. Kinder sollten sich nie einsam fühlen!“

Trotz der Geschehnisse der Vergangenheit versucht Anna optimistisch in die Zukunft zu blicken. Doch manchmal ist sie noch immer auf der Suche nach Antworten. Nach Antworten auf Fragen, die ihr als Kind niemand geben konnte.

 

* Die Geschichte von Anna schildert ihre persönliche Sichtweise und Erfahrungswelt. Auf Rücksicht auf die Familie wurde der Name von der Redaktion geändert.